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Erste Notiz zu Choros: Aufenthaltsraum

Januar 2019


Choros VI ist ein Raum. Als Besucher*in begehe ich ihn. Ich komme hinein, ich sehe mich um, ich höre. Es gibt viele Plätze – eine Grasfläche, Trampoline, Stühle, ein Turm, ein halboffenes kreisrundes Kino – und Eingänge: Videobilder, Kopfhörer mit gesprochenen Texten, Körper, die sich bewegen. Alles ist ist gleich gut geeignet, einen Anfang zu machen.

Ich gehe umher, bleibe stehen, setze mich hin, lege mich hin, stehe auf und gehe weiter. Ich bewege mich durch den Raum, ich halte mich auf. Ich höre, sehe, nehme die Gleichzeitigkeit von Bildern, Texten, Körpern wahr. Die Sinne öffnen sich für Bezüge. Ich höre einer Stimme zu, während ich Bilder anschaue, ich sehe Körpern bei der Bewegung zu, während ich zugleich großflächig projizierte Videobilder betrachte. Die Elemente verbinden sich, schichten sich, ballen sich zusammen, strecken sich, sind lose verbunden. Die Wahrnehmung genießt die Abstände und Zwischenräume, das Denken bringt nichts zur Deckung, nichts auf einen Nenner.

Choros VI verräumlicht die Zeit. Auf der linearen, eindimensionalen Zeitachse geschieht nichts: Es gibt keine Entwicklung, keine Handlung, keine Steigerung und weder Konsequenz noch Kausalität. Alle zeitlichen Elemente – Filme, Texte, Körperbewegungen – loopen zugleich an verschiedenen Orten im Raum. Sie sind Kreisläufe von unterschiedlicher Dauer, jeweils für sich und mit den anderen interferierend. Wie und wo und wann sich die Texte, Bilder und Bewegungen treffen, schneiden, überlappen, hängt davon ab, wo man ist und wie man schaut. Was es zu sehen, hören, wahrzunehmen gibt, sind nicht additiv und chronologisch die einzelnen Elemente: dieses Bild und dann diese Bewegung und dann dieser Text, sondern die Beziehungen untereinander. In den Kontakten – Überschneidungen, Assoziationen, Sprüngen, Kontrasten, wechselseitigen Abdrücken, Projektionen, Echos usw. – passiert es. Die Fülle der Relationen entfaltet sich im Raum und als Besucher*in, Zuschauer*in bin ich aktiver Resonanzkörper dafür.

Die Haltung, die es braucht, ist ein konzentriertes sich-treiben-Lassen. Im Fokus auf das immer nur Eine tut sich nichts. Ich muss mich von einem zum anderen gleiten lassen, surfen; auf mehreren Wellen gleichzeitig sein und trotzdem versinken. In die Zonen zwischen Bildern, Sprachen, Körpern gelangen.

Choros VI vervielfacht den Zuschauerraum und vereinzelt ihn. Alle zusammen sehen dasselbe und jeweils etwas anderes. In allen zusammen und jeder* Einzelnen* passiert etwas anderes.

Jeder Körper ist ein Zuschauerraum. In ihm findet Choros VI statt. In die Augen, Ohren, Poren aller dringen Bilder, Texte, Bewegungen, werfen ihr Licht, ihre Schallwellen, ihre Vibrationen auf Hirnmasse und Nervenbahnen, drücken sich ein, schreiben sich ein, verknüpfen sich mit jeweiligen und geteilten Erinnerungen, Wünschen, Ängsten, Gedanken, Gefühlen. Das ist Zuschauen als interessanter Zustand.

In allen unsere Arbeiten geht es um andere Zuschauerräume. Choros VI triggert mehr als je zuvor diesen bestimmten Zustand relationalen Schauens, Empfindens, Wahrnehmens, der zwischen Versammlung und Zerstreuung liegt: herumgehen, umschauen, umhören. Nichts fixieren, nicht nach etwas suchen, trotzdem versinken. Vertrauen, dass alles da ist. Es ist nicht einfach, dorthin zu gelangen. Es verlangt etwas, weil es so einfach ist.

Es gibt eine andere Welt des Zuschauens. Anders als entweder kollektiv auf ein Zentralgeschehen ausgerichtet sein (Aufführung/Publikum) oder individuell auf vorübergehende Betrachtung (Ausstellung/Besucher*in). Unsere Arbeiten sind unterwegs in diese andere Welt. Es ist ein Weg, ein Trip, für uns und die Besucher*innen. Manchmal kommen sie/wir dem Zustand näher, manchmal gelingt es nicht. Für das Nichtgelingen gibt es viele Gründe (Irrtümer, Missverständnisse, falsche Fährten), sie werden im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung weniger. Für das Gelingen gibt es auch viele Gründe (Vorbereitungen, trainierte, stimulierte Intuitionen und Impulse) und sie werden mehr.

Entscheidend für einen Raum wie Choros VI ist Wiederholung und Dauer: Die Arbeit verändert sich sehr in den Tagen mit Publikum; am Anfang verhält sich alles starr zueinander (Abläufe, Besucher*innen, Elemente), mit jedem Tag wird es durchlässiger und beweglicher. Als »Zuschauerraum« kann er sich nur durch und mit Publikum verändern, nur durch und mit Publikum lernen, er ist nicht »fertig«, bevor die Leute kommen. Raum und Besucher*innen wachsen zusammen, öffnen sich füreinander.

Es wird in Zukunft jenseits der unsere und andere Arbeiten lange prägenden Versuche, die Opposition Ausstellung und Aufführung, White Cube und Black Box, Zuschauen und Besuchen usw. zu überwinden, immer mehr um Kunstformen des sich Aufhaltens gehen.

Um Weisen des Daseins – des sich Versammelns und sich Verstreuens – in einem Kunstraum.

Choros VI öffnet Fenster, Kanäle zu einem solchen neuen »Aufenthaltsraum«: ein Raum zugleich völlig prosaisch in der Qualität des Zwischen, des Beiläufigen, Durchlässigen und nahezu sakral im Zusammenkommen an einem Ort, der sich aufhält und offen hält (aperiatur terra…). Ein solcher heiliger Platz war der antike Choros als kultischer Tanzplatz, er erinnert uns an das Offene, Unbestimmte, das unser Aufenthalt auf dieser Erde ist. Zugleich transformiert sich der Versammlungsort heute und in Zukunft in etwas anderes, in Transitzonen des Kommens und Gehens, sich kurz Aufhaltens, dabei Verlierens, Vereinzelns. Der »Aufenthaltsraum« im doppelten Sinn überblendet beides: Vergangenheit und Kommendes, Zusammenkunft und Durchgang; er präferiert nicht mehr die eine Form – Kollektiv oder Individuum, Publikum oder Besucher*in –, sondern räumt beide und mögliche dritte ein.

Er tut das, indem er zugleich Bewegung und Umgebung ist: Ein Raum, der sich verändert und eine räumliche Veränderung, die nicht als zu betrachtendes Gegenüber stattfindet, sondern in der Interferenz von Kreisläufen: loopende Bilder, Texte, Körper verbinden sich miteinander und zwar in Köpfen und Körpern sich frei bewegender Zuschauer*innen, die umhergehen, verweilen, von einem zum andern streifen – kommen, bleiben, gehen.

Wir haben die Idee eines Kunstraums, der wie eine Landschaft zugleich Umgebung und Bewegung ist. Ein Raum, in dem sich alles als Gesamtheit und jede Singularität für sich bewegt und durch den man streift, andockt, weitertreibt. Und den man besucht, weil man Interesse, Vermögen und vor allem Lust in dieser Räumlichkeit und diesem Zuschauen als Zustand hat. In diesem sich-intensiv-Konzentrieren und zugleich sich-gehen-Lassen. – Tut man es, öffnet sich eine Intensitätszone.

Unsere Arbeiten dienen dieser Zone. Dem Aufenthalt zwischen Prosa und Andacht, zwischen Beiläufigkeit und Konzentration, zwischen Versammlung und Transit.

Wir arbeiten an einem Genre, das im Entstehen ist – die chorische Landschaft – und dazugehörig an einer Wahrnehmung, die in ihr möglich wird: ein sich Aufhalten. Seit Festung / Europa (2015) machen wir räumliche Anordnungen, die immer wieder jeweils anders dasselbe tun: zugleich Umgebung und Bewegung sein. Blicke, Gedanken, Wahrnehmungen, Besucher*innen zusammenkommen und sich verstreuen lassen.

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