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Fünfte Notiz zu Choros: Die Texte

Januar 2019


Es gibt Lyrik und Prosa in Choros VI. Die Texte sind gesprochen, man hört sie in Kopfhörern und sie befinden sich immer in der Nähe von Videobildern. Sie sind zugeordnet, die Lyrik vertont Videos, die von kosmischen Perspektiven über Gemeinschaft und Individuum in die Landschaft führen. Die Prosa ist bei Videos der Gesichter der Tänzerinnen in Großaufnahme. Alle Texte werden von einer männlichen (Frank Willens oder Sergiu Matis) und einer weiblichen Stimme (Katharina Meves) gesprochen, alle sind im Original deutsch und von Anna Galt ins Englische übersetzt.


Mythos

Ein langer Text, geschrieben in der dritten Person Plural, im Präsens. Er führt von den Bewegungen der Grashalme, der Luft und des Atems, der Nervenzellen in einem Gehirn in verschiedene Landschaften. Er folgt dem Zug einer Herde, beschreibt die Versammlung eines Stamms und ihren Tanz auf dem Erdboden; er erzählt von einer Dürre, dem Austrocknen der Pflanzen, einer weltweiten Verwüstung. Er schildert einen Sandsturm, Körper, die darin verschüttet werden. Er berichtet von einem Wasser, in dem sich Leben bildet; er folgt den Lebewesen über verschiedene Stadien bis zu an Land gehenden Wirbeltieren. Er endet wieder dort, wo er begonnen hat – mit den Bewegungen der Grashalme, der Luft, der Nervenzellen in einem Gehirn.

Der Text beschreibt alles sehr genau, aber nicht die, die das alles erleben. »Sie«, die dritte Person Plural des Texts, bezieht sich meistens auf eine nicht näher spezifizierte »Herde«, manchmal aber auch auf irgendeinen Plural – die Gräser, die Sandkörner, die Nerven, die Gliedmaßen, die Dünen usw. Die, die sich bewegen und die Umgebung, in der sie das tun, gehen ineinander über. Es gibt keine*n Protagonist*in.

Der Text ist im Präsens geschrieben, aber er beschreibt nicht die Gegenwart. Er holt mit dem Präsens Zeitlichkeiten herbei, vergegenwärtigt sie, die nicht mehr oder noch nicht Gegenwart sind. Und die vor allem und außerdem von solcher Dauer sind, dass sie für niemanden je Gegenwart sein können. Der Entstehung des Lebens im Urozean wohnt niemand bei, der es schildern könnte; ebensowenig der Verwüstung der Erde in einer expandierenden globalen Dürre. Der Text vergegenwärtigt im Präsens, was nicht Gegenwart einer Erfahrung sein kann.

Trotzdem gibt es einen Zug von Lebewesen durch den Text, eine Ausdehnung und Unbestimmtheit, die verschiedene Arten vorstellbar macht und eine Erstreckung bis an die äußersten Grenzen des Lebens – Zellen, Grashalme, Algen, Wasser. Die Beschreibung folgt Bewegungen bis an die Ränder des Stillstands – Hitze und Steine, Sand, Wüste und Krater; Knochen, Schweiß und Tränen, begraben werden und wieder geboren.

Es gibt in diesem Text niemanden, der etwas tut oder erlebt und es gibt keine zeitlichen Anhaltspunkte, wann das alles geschieht, geschehen ist oder geschehen wird. Die Beschreibung ist überzeitlich und überindividuell, sogar übergattungshaft. Sie ist auch nicht neu, sie wiederholt sehr alte Motive.

Genaue Beschreibung ohne handelndes Subjekt, Personalpronomen ohne Figur, Präsens ohne Gegenwart, Lebewesen ohne Gattung, Körper ohne Erleben usw. trifft auf archaische, mythologische, alttestamentarische – das heißt: die Erde, das Leben, die Schöpfung umfassende Themen wie Dürre, Verwüstung und kosmisch-erdgeschichtliche wie Ursuppe und chemische Evolution. Es entsteht eine eigenartige Mischung aus Nähe und Ferne, Detachment und Unmittelbarkeit, Tiefe und Oberfläche. Der Text bietet keine Identifikation, man lebt mit niemandem mit. Ich höre ein unhintergehbares, fast positivistisches »so ist es«.

Der Affekt, der entsteht, ist eine unbestimmte Ruhe, die Reibung aus Tiefe und Oberfläche. Es ist eine Schöpfungsgeschichte, aber ohne Schöpfer. Ohne Schöpfer bleiben auch die Geschöpfe nicht dieselben, sie werden anonym, unbestimmt, unpersönlich, offen für Entgrenzungen und Transformationen.

Der Text hat den Titel Trieb / Drive. Er ist nahe an den Körpern – menschlichen, animalischen, pflanzlichen. Sie treiben alle in einer Umgebung, die sie austreibt.

Jenseits der Frage nach Handlung, Verstrickung, Schuld entfaltet sich eine Apokalypse ohne Tragik. Verursacht oder nicht, verschuldet oder nicht, geschieht hier etwas, das alle betrifft. Keine Personifikation, keine Motivation, keine Emotion. Und zugleich: Wir sind »sie« und das Präsens ist nahe.

(Zusatz: Es gibt in dem langen (gesprochen sind es fast 60 Minuten in der englischen, fast 50 Minuten in der deutschen Version, beide sind mit Sound versetzt) Text immer nur dieses plurale »sie« bis auf eine einzige Stelle, in der ein Du auftaucht:

Was aber könntest du nur weit genug / sehen näher heran im Moment der Erschöpfung ist alles / offen das Chaos dehnt sich aus und das Feste wird / auseinandergerissen selbst im Innern eines Sterns / ein rasender Sturm ungesichtet in den Augen aller / lauert was ist)


Lyrik

Die lyrischen Texte begleiten Videos, die von den Vielen in kosmischem schwarz/weiß über ein schwereloses Ich aus schwebenden Gliedmaßen auf die Erde führen, in die Bewegungen eines Körpers in der Landschaft und über umschwärmtes Licht in stockdunkler Nacht wieder zurück ins All.

Es sind Auszüge aus verschiedenen Gedichten, entstanden 2015 bis 2017. Beginnend mit Fragmenten ohne Ich schält sich aus Bewegungen des Weltraums langsam ein Ich heraus, ballt sich, häuft sich, besetzt den Text und zieht sich langsam wieder zurück, bis es sich im Surren eines Insektenschwarms auflöst und der Loop wieder von vorne beginnt.

Der erste Satz ist In the eye of the machine, der letzte Im blühenden Staub schaut mich das Gesicht der Erde an. Dazwischen spielt sich alles ab: die Geburt der Erde als steiniger Körper, des Ichs als Punkt, Auge, Keim, als Ort der Selbstaustragung und Selbstverschlingung bis in die Landschaft aus Licht, Luft und Boden und die Erde als Grab und Uterus.

Die Auf-, Unter- und Wiedergänge von Himmelskörpern verbinden sich mit denen von Erdkörpern. Weltall und Auge, Planet und Zelle, Steine und Organe, Sternenstaub und Blütenstaub überblenden sich in Bildern und formen Ellipsen.

Immer wieder kommt das Sehen vor, das Auge des Automaten, das glühende Auge, mein kreisendes Auge, aber es gibt kein einziges »ich sehe«. Alles Sehen ist passiv – entweder ist es »das Auge«, das als Organ aufgerufen wird, oder etwas schaut mich an, lässt michetwas sehen.

Es gibt in den Gedichten nur die erste Person Singular, aber wieder gibt es an einer Stelle ein Du – am Anfang wirst du ganz still sein müssen und nicht vergessen auf mich hören. Das Du kommt zum Ich, mit ihm die Stille zum Auge, das Hören zum Sehen.

Die Texte sind in Kopfhörern, die Stimmen sind sehr klar, die Aufnahmen sehr physisch, man hört Atmen, manche Mundgeräusche. Alles ist sehr nahe, das Sprechen als körperlicher Akt des Artikulierens, zu dem Bewegungen der Muskeln, der Luft und des Speichels gehören, wahrnehmbar. Beim Hören kriechen die Stimmen in die Schädelhöhle und werfen die Bilder der Texte an die Hirnwände. Jeder Kopf ein Zuschauerraum.

(Zusatz: In allen meinen Texten gibt es nur dieses passive Sehen bis auf eine Ausnahme, ein Text, der im Gegenteil nur aus einem Ich sehe dich, ich sehe dein Gesicht usw. besteht, der die Aufzählung dessen ist, was jemand beim Ansehen eines anderen sieht. Der Text kommt in Narkosis vor, es ist der Text, den Echo spricht, wenn sie Narziss zusieht/ansieht, während er sich selbst im Spiegelbild der Quelle ansieht. Und der Text ist eigentlich eine Anbetung und als solche ist das damit verbundene Sehen dann letztlich doch auch wieder passiv.)

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